Abiturverabschiedung

Abend des 15. Juli 2021 erhielten die Abiturientinnen und Abiturienten des Max-Planck-Gymnasiums in Schorndorf ihr Reifezeugnis in feierlichem Rahmen überreicht.

Nach der Ansprache durch den Schulleiter Herrn Wasserfall, vielen guten Wünschen für die Zukunft, die die Elternvertreterin Frau Krämer überbrachte, und der Scheffelpreisrede von Marieke Reinhardt, konnten 67 Abiturzeugnisse, davon 23x mit der 1 vor dem Komma, übergeben werden. Besonders erfreulich: Anna Bergler und Benedict Wagner erhielten die Traumnote 1,0. 22 Preise für sehr gute Leistungen, 5 Belobungen für gute Leistungen und insgesamt 18 Sonderpreise konnten ebenfalls verliehen werden. Die Veranstaltung wurde umrahmt von musikalischen Einlagen der Musikabiturientinnen und Musikabiturienten.

Scheffelpreis-Rede 2021, Marieke Reinhardt

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
Liebe Eltern, Liebe Gäste,

jetzt, da ich einen Teil von ihm vorgelesen habe, kann ich es ja verraten: Dieses Gedicht mit dem Titel „Die Stufen“ stammt von Hermann Hesse, einem der bekanntesten Autoren seiner Zeit und – mag man den Steckbriefeinträgen unserer Abizeitung Glauben schenken – zugleich Verantwortlicher für das schlimmste Schulerlebnis des ein oder anderen Abiturienten. Zugegebenermaßen, unsere Pflichtlektüre „Der Steppenwolf“ ist stellenweise harte Kost und sicherlich nicht für jedermann eine Freude. Nichtsdestotrotz habe ich es gewagt, ein letztes Mal auf Hesses unbestreitbare Fähigkeit zurückzugreifen, Konflikte, Lebenssituationen und die damit verbundenen Gefühle in Worte zu fassen. Und während Hallers Innenleben möglicherweise nur einem geringen Bevölkerungsanteil Raum zur Identifikation lässt, so bin ich überzeugt davon, dass die von Hesse in seinem Gedicht beschriebenen „Lebensstufen“ jeder Mensch Zeit seines Lebens beschreitet. Diese Stufen können manchmal mehr, manchmal weniger herausfordernd sein.

Ich erinnere mich noch gut an meinen zweiten Schultag hier am Max-Planck-Gymnasium, im Herbst 2013. Auch, wenn es heute auf Außenstehende nicht immer so erscheinen mag, gab es doch auch in meinem Leben eine Zeit, in der ich noch keinen Überblick über das komplizierte System „Gymnasium“ hatte. Und so verwechselte ich gleich an meinem zweiten Tag die 5- und 10-Minuten Pausen miteinander, dachte, mir bliebe noch mehr Zeit zum Spielen als es tatsächlich der Fall war, und fand mich urplötzlich mutterseelenallein, mit meiner dicken Brotdose als einzige Gesellschaft, auf den Gängen wieder. Schon als Fünftklässlerin nicht mit dem besten aller Orientierungssinne ausgestattet, irrte ich eine entsetzlich lange Ewigkeit durch die Gänge und Stockwerke unserer Schule. Diese war für mich zu diesem Zeitpunkt nichts mehr als ein undurchdringbares Labyrinth und damals erschienen all die Stufen kilometerhoch, grau und unbezwingbar.

Vor gut einer Woche, als wir schon keinen Unterricht mehr hatten, bin ich ganz ähnlich wie damals vor 8 Jahren durchs Schulhaus gelaufen, um einen Zettel in den Oberstufenbriefkasten zu werfen. Auch diesmal war ich der einzige Mensch weit und breit, da alle anderen regulär Unterricht hatten – aber ich habe mich nicht mehr allein gefühlt, denn auf meiner Runde durch die Stockwerke wurde ich begleitet von Erinnerungen. Erinnerungen an meine Schulzeit am MPG und an all die Erlebnisse und Menschen, die ich damit verknüpfe. Auf den Gängen hängen zahlreiche Bilder von uns als Stufe, sei es mit bunten T-Shirts bei einem Konzert des Unterstufenchors von Herrn Dürr und in der Big Band von Herrn Kroll, mit verwehten Haaren und zusammen gekniffenen Augen vor den olympischen Ringen in England, und mit hochkonzentrierten Gesichtszügen beim Experimentieren mit Chemikalien. Von der 5. bis zur 12. Klasse haben wir alle eine Entwicklung durchgemacht. Wir sind von einer Stufe zur nächsten geschritten, manchmal mehr, manchmal weniger bewusst. Topfschnitte wurden zu anständigen Kurzhaarfrisuren und schüchterne Charaktere entwickelten sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten.

Und dieses Durchschreiten unserer Lebensstufen ist gut, ja, sogar essenziell für unsere Entwicklung, wenn man Hesses Worten Glauben schenkt. Denn diese Stufen sind wie Blüten, und jede Blüte muss eines Tages verwelken, damit eine neue aufgehen kann. Aber dieser Abend markiert möglicherweise nicht nur das Verblühen einer einzigen Blume, sondern gleich das eines ganzes Straußes. Für uns Abiturientinnen und Abiturienten endet heute ein Abschnitt unseres Lebens, der unseren Alltag 12 Jahre lang bestimmte. Manche Teile dieses nun verblühten Blumenstraußes lassen wir wohl mit Freuden hinter uns: Der Stress vor und während den Klausuren, die Unterrichtsstunden an düsteren Wintermorgenden und drückend heißen Sommernachmittagen, die unbegreiflichen Physikformeln oder die absurden Interpretationen von Lektüren – all das wird wohl kaum jemand vermissen.

Aber wir alle wissen auch, dass der Unterricht und die damit verbundenen Strapazen nicht wirklich das sind, was Schule für einen ausmacht. Viel mehr sind es doch die Freunde, die einem im Unterricht die richtige Lösung so laut einflüstern, dass es auch noch die Reihen vor ihnen hören. Die Mitschüler, die Blockblätter verteilen als wäre die Abholzung des Regenwaldes kein Problem und Hausaufgaben abschreiben lassen als existiere der Begriff „Copyright“ in ihrem Sprachgebrauch nicht. Und die Lehrerinnen und Lehrer, die sich doch als gar nicht mal so übel herausstellen und bei denen man sich urplötzlich dabei ertappt, sogar die 1./2. Stunde im tiefsten Winter zu mögen.

Das sind die Blüten, welche wir ein wenig länger betrachten, wenn wir sie aus unserem Strauß ziehen und bei denen unser Herz einen Stich Wehmut verspürt, wenn es realisiert, dass auch die leuchtendsten Blumen eines Tag verwelken müssen. Und uns als Jahrgang geht es bei der Betrachtung unserer zurückgelegten Stufen möglicherweise auch so, dass wir insbesondere auf die vergangenen zwei Jahre mit einem leicht irritierten Stirnrunzeln zurückblicken und denken: „Fehlt da nicht irgendetwas? Müssten nicht gerade diese zwei letzten Jahre in der Kursstufe die, mit den eindrucksvollsten Erinnerungen sein? Was habe ich eigentlich die letzten 6 Monate gemacht und wieso haben wir schon den 15. Juli, wenn sowohl das Wetter als auch ich selbst eigentlich noch auf Frühling eingestellt sind?“

Sollten euch solche oder ähnliche Gedanken umtreiben, so lasst euch gesagt sein: Das ist vollkommen normal und durchaus berechtigt. Aus Gründen der Bewahrung eines allgemein positiven Stimmungsklimas vermeide ich an dieser Stelle die Aufzählung sämtlicher Ausflüge und Fahrten, deren schmerzlichen Verlust wir aufgrund der Pandemie erfahren mussten.

Fakt ist: Niemand, wirklich niemand von uns konnte Ende der 10. Klasse erahnen, dass „Sorry für die Verspätung, hab meine Maske daheim liegen lassen“ in der Oberstufe eine Entschuldigung sein würde, welche verständnisvolles Nicken anstatt ungläubiger Blicke erntet. Und so verbleiben wir am Ende unser langen Reise mit einem Konglomerat an Gefühlen zurück: Auf der einen Seite der Stolz und die immense Erleichterung über unsere bestandenen Prüfungen, auf der anderen Seite ein leichter Schwindel der Surrealität und des Unglaubens darüber, dass unsere Schulzeit und alles, was mit ihr zusammenhängt, nun tatsächlich ein Ende gefunden haben soll. All das ist umgeben von einem Hauch von Bedauern über das, was hätte sein können und doch nicht war. Und gleichzeitig weiß ich aus der seriösen Quelle unserer Abizeitung, dass statistisch gesehen für die allermeisten die Oberstufenzeit die beste Schulzeit war. Trotz endloser Monate des Online-Schoolings haben wir die Zeiten, welche uns in Gemeinschaft blieben, genutzt und letztendlich gelang es uns sogar eine bunte und kreative Mottowoche aus dem Boden zu stampfen und dank der tatkräftigen Unterstützung zahlreicher Lehrerinnen und Lehrer ist auch diese Zeugnisverleihung in festlichem Rahmen möglich geworden.

Dieser Abend markiert das Ende eines Abschnittes und ist zugleich der Anfang von etwas ganz Neuem, einer Wendung in eine Richtung, die diesmal niemand außer uns selbst bestimmt. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, heißt es in Hesses Gedicht und ich glaube heute, hier, gemeinsam, können wir alle diesen Zauber spüren, jede und jeder auf seine ganz eigene Art und Weise. Er liegt in dem aufgeregten Stimmengewirr, das einem schon am Eingang entgegenschallt, in der ein oder anderen Träne eines stolzen Elternteils und natürlich in der Mappe mit unserem Abiturzeugnis, welches wir bald in Händen halten werden. Es ist der Zauber eines Anfangs, eines Neubeginns, der so hell leuchtet, dass er die verwelkenden Blüten unserer Vergangenheit in den Schatten stellt. Genießt heute Abend und auch noch in den kommenden Wochen diesen Zauber, dieses Gefühl, dass von nun an niemand außer euch selbst den Weg eures künftigen Lebens bestimmen wird. Zum Schluss noch ein weiteres Zitat von Hesse, das ebenfalls in diese Zeit des Neubeginns passt: „Das Leben hat nur genau so viel Sinn, wie wir ihm geben.“

Möglicherweise ist vielen hier noch nicht so ganz klar, in welche Richtung die Bahnen ihrer Zukunft verlaufen werden und was sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit anfangen sollen. Euch kann ich nur sagen: Die Fäden dafür habt allein ihr selbst in der Hand. Aber zu wissen, wie man sie richtig hält, kann eine ganze Weile dauern. Es ist nicht schlimm, in einem, zwei oder drei Jahren immer noch nicht seine genauen Wünsche und Vorstellungen vom Leben zu kennen. Schlimm ist nur, wenn man aufgibt, danach zu suchen.

Bilder: lukas breusch photography